Brest 2004

Die salzigen alten Maltzähne oder:

Kotug und Schleppko auf dem Weg nach Brest ausgesetzt

Auf dem Weg nach Brest müssen Kotug und Schleppko abmustern

 

von Jens 'Rudi' Franke

 

Es ist erstaunlich, wieviel man vergißt. Doch gibt es auch Dinge, die brennen sich in das Gedächtnis ein, wie es wenig andere Dinge vermögen.

Sicher – ich kann mich nicht daran erinnern, wieviele Arbeitsstunden die PRÄSIDENT FREIHERR VON MALTZAHN im vergangenen Jahr verschluckt hat. Und ob es letztlich fünf oder zehn Skipper waren, die um ihre Dienste bekniet wurden, bis vier Tage vor der geplanten Abfahrt geklärt war, daß wir überhaupt einen bekommen würden, das weiß ich auch nicht mehr genau. Aber wenn es um das Gefühl geht, daß ich am Morgen des 19. Juni 2004 hatte, dann ist es als geschehe es heute – gerade jetzt:

 

Wir kommen auf dem Vordeck unseres Schiffes zum Crewfoto zusammen, und fast platzt uns die Brust vor Stolz. Was mußten wir uns in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder motivieren, um Rückschläge in unserem gemeinsamen Vorhaben zu verdauen! Wie entnervend waren die Zeiten des Leerlaufs! Wie oft zweifelten wir daran, ob es in diesem Sommer überhaupt etwas mit einer großen seglerischen Herausforderung für eine Maltzahn-Crew werden könnte! Ab und zu sprach man sogar über einen Ostsee-Törn als Ersatz. Wie das schon klingt: Ersatz, bäh!

Doch das zwischenzeitlich scheinbar Unmögliche ist heute Morgen zum Greifen nah geworden: Wir fahren zum weltgrößten Traditionsseglertreffen nach Brest – auf UNSEREM Schiff!

Wir fassen es noch nicht, daß es jetzt tatsächlich losgehen soll. Sind so aufgeregt, daß wir Teile unseres Proviants in Blankenese vergessen und dafür ein Mannschaftsmitglied auf der Liste wähnen, das gar nicht beabsichtigt, auf die Fahrt mit zu kommen. Nein, Uwe will erst auf der Rücktour dabei sein! Noch ganz verschlafen, verspricht er uns am Telefon, unser Schiff bei Willkommhöft standesgemäß zu verabschieden. Standesgemäß? Doch nicht etwa mit ...? So wie die Großen ...? Ach egal – wir sind viel zu hibbelig, um noch darüber nachzudenken. Es wird noch schlimmer, als wir am Blankeneser Bull’n schon wieder festmachen müssen, wegen des vergessenen Proviants. Eine dreiviertel Stunde wird zur Ewigkeit ...

Endlich geht es weiter. Und tatsächlich hat Uwe es fertig gebracht, die alten Kapitäne bei Willkomm Höft zu bequatschen: Sie spielen „Muss I’ denn“ und dann die Nationalhymne. Es ist schon ein komisches Gefühl, wenn einen Das Haydn-Stück die Elbe hinunter geleitet; das ist nicht die England-Fähre – hier wird nun tatsächlich speziell für uns gespielt!

Pagensand liegt hinter uns, und man hat sich allmählich sortiert. Die Wacheinteilung ergibt sich fast von selbst. Moritz macht sich auf der Fahrt nach Cuxhaven und am nächsten Tag nach Helgoland mit dem Schiff vertraut. Es ist seine erste Traditionsschiff-Fahrt als verantwortlicher Skipper. Das Wetter ist alles andere als sommerlich, aber wir kommen voran, und das ist wichtig. „Bloß nicht wieder wie vor vier Jahren!“ – So ist es die einhellige Meinung derer, die damals eine Woche in Cuxhaven eingeweht waren. Mit der Elbmündung achteraus ist die Zuversicht groß,und allmählich verbreitet sich das unvergleichlich tolle Gefühl, unterwegs zu sein.

Auf der roten Insel wird Diesel gebunkert und mit Erstaunen festgestellt, daß drei der Crewmitglieder noch niemals hier gewesen sind; ich nehme mich als ehemaliger Insel-Zivi dieses Mißstandes an und führe die Novizen den Klippenrandweg entlang und in die Eigenheiten Helgolands ein.

Aber auch ich bin froh, daß es nach zwei halben Hafentagen endlich auf See geht. Alle wollen so schnell wie möglich viel West gewinnen, und so stört es keinen besonders, daß wir unter Motor die Deutsche Bucht überqueren und uns an den ostfriesischen Inseln entlang hangeln.

Der Wetterbericht sagt mäßige südwestliche Winde mit Gewitterböen bis 7 Bft. voraus. Die Luft beginnt, sich zu erwärmen. An Bord kehrt zur ersten Nachtfahrt Ruhe ein, und um Mitternacht lösen Kurt, Jürgen und Michael die Backbordwache ab. Die Maltzahn tuckert unter Groß und Besan zwei Meilen nördlich an Juist vorbei...

Drei Stunden später kommen Anne und ich an Deck, am südlichen Horizont zeigen sich Gewitterwolken. Wir bergen vorsorglich Groß und Besan, die Blitze über der Küste sind beeindruckend. Bis in den frühen Vormittag hinein begleitet uns entferntes Donnergrollen, doch die Maltzahn wird verschont. Stattdessen schläft der Wind vollkommen ein. Die Luft wird stickig warm.

Am Mittag exerzieren wir mehrere Person-Über-Bord-Manöver, die allesamt gut klappen. Dagegen muß die Feuerlöschübung abgebrochen wird – die Pumpe funktioniert nicht. Gut, daß wir versierte Handwerker an Bord haben, die das Problem beheben; unterbrochen werden wir dabei vom holländischen Zoll, der uns mit sechs Mann hoch genauestens unter die Lupe nimmt. Die Anwesenheit eines Amerikaners und eines Canadiers verwirren sie wohl ein wenig – sie bleiben viel länger als notwendig. Zu beanstanden gibt es jedoch nichts; nur von unserer Seite aus: Man hätte ruhig etwas freundlicher zu uns sein können!

Inzwischen ist klar, daß wir Texel anlaufen sollten – der Wetterbericht hat stürmischen Südwestwind angesagt. Hoffentlich hält uns der nicht so lange auf ...

 

In Oudeschild verbringen wir zwei Tage mit Museumsbesuchen, Amsterdam-Auslieferung der Quälgeister Kotug und Schleppko (was es damit auf sich hat? – Laßt es Euch von Anne erzählen, oder von Christian. Vielleicht weiß Jürgen etwas darüber? Kurt? ...), Fußball-EM in der Kneipe – und Sturm! Das zehrt an den Nerven. Beinahe mehr als in höchster Gefahr muß sich Kameradschaft in der Langeweile beweisen. Nicht einmal Milchzahn-Segeln ist bei diesen Bedingungen drin. Sattdessen geben wir uns gegenseitig Navigations-Unterricht und bereichern unsere Kenntnisse im Seekartenstudium. Nähzeug und Petroleumlampen ergänzen die Tischdeko. Ab und zu werden die Nasen aus dem Luk gesteckt, die Ohren an den Wind gelegt, die Augen auf den Mast gerichtet; zuviel von allem dort draußen – und zuwenig von dem, was das Herz begehrt.Manches Mal blüht im Angesicht der noch vor uns liegenden langen Strecke der Flachs über die Maßen. Wir sehen uns vor, daß es nicht zu persönlich wird.

Beim Spar-Laden gibt’s von allem nur eine Sorte – auf Holländisch. Prompt kaufe ich die falsche Milch ein und kriege trotzdem ganz gute Pfannkuchen zustande. In der Kneipe werden wir am Abend bedauert – warum? Morgen spielen andere Nationalmannschaften besseren Fußball. Und vor allem: Morgen gehen wir segeln, und zwar richtig!

 

Der Wind hat abgeflaut – auf sechs Windstärken ... Trotzdem hält uns nichts mehr auf Texel. Wenn es irgendwie geht, möchte Moritz nach Dover, um das Schiff dort morgen abend an den nächsten Skipper zu übergeben. Aber schon auf der Fahrt durch das Schülpengat weht der Wind aus der falschen Richtung und flaut erheblich ab. Nicht einmal nach Süd haben wir einen guten Anlieger gegen die draußen zunehmend grobe See. Es wird still an Bord, und die ersten grünen Gesichter schließen die Augen. Himmel und See sind grau, unter Fock und Besan rollen wir gen Scheveningen ...

Am Nachmittag beruhigt sich die See ein wenig, und wir versuchen, Moritz an seinem letzten Tag vom Schicksal eines Motorbootkapitäns zu erlösen. Beim Großsegelsetzen bricht die Korallenkette – das war’s mit der Herrlichkeit! Unter Klüver, Fock und Besan versuchen wir es noch eine Stunde, dann flaut der Wind immer weiter ab, und in der Abenddämmerung laufen wir in Scheveningen ein.

Am nächsten Tag verlassen uns Moritz und Michael. Unser neuer Skipper heißt Ole, und zum passenden Einstand bringt er frische Erdbeeren mit. Die Mannschaft hat inzwischen kleinere Reparaturen durchgeführt und das Großsegelsetzen bis zur Erschöpfung geübt. Es ist ein heißer Tag, morgen soll es ähnlich sein.

 

Und tatsächlich scheint am nächsten Tag zunächst die Sonne und der Wind weht mäßig aus Südwesten. Wir setzen Segel und kreuzen auf den Ärmelkanal hinaus. Am Mittag bedeckt sich der Himmel, der Wind dreht auf Westsüdwest. Da steht uns wohl ein frustrierendes Etmal bevor: Unser Kompasskurs lautet mittlerweile 330 Grad – nicht so ganz die richtige Richtung nach Brest! Wir wollen uns sowohl von der holländisch-belgischen Küste mit ihren Bänken als auch vom Verkehrstrennungsgebiet der Dover Strait freihalten, was gar nicht so einfach ist. Mehrere Stunden treiben wir vor der nördlichen Zufahrt des Noord Hinder hin und her; nur nach Nordwesten geht es weiterhin gut voran – aber da wollen wir doch nun wirklich nicht hin!

Am frühen Morgen dreht der Wind endlich etwas recht und ermöglicht uns ein paar Stunden echtes Segeln, doch dann flaut er ab. Wir werden wieder zum Motorsegler. Vor uns taucht die englische Küste in der Abenddämmerung auf, und in der Nacht laufen wir an Dover und den gespenstisch hell leuchtenden Feuerschiffen vor den Goodwin Sands vorbei. Die Unterhaltung dazu leistet der äußerst höflich geführte Funkverkehr von Dover Traffic mit den zahlreichen die Meerenge durchlaufenden Schiffen.

 

Bis zum nächsten Abend passieren wir bei schönstem Jollensegelwetter Dungeness und Beachy Head. Die Stimmung an Bord ist gut, und sie wird noch besser, als der Wind etwas aufbrist und die Vorsegel gesetzt werden; es hätte keine besser gewählte Stelle zum Duschen des Vorschiffes als hier geben können! – Outer Owers heißen die Untiefen, an denen Wind und Strom eine kabbelige See und mir feuchte Erinnerungen hervorrufen. Was tut man nicht alles zur Erheiterung der Crew und für ein paar Segelstunden? Viele werden es nicht mehr heute – genaugenommen nicht einmal zwei, denn mit vollem Strom, aber fast ohne Wind geht es nur unter Maschine sicher in den Nab Channel nach Portsmouth. Zudem wird es dunkel. Nicht ganz einfach bei dem Lichtermeer voraus. Mit sieben Knoten rauschen wir voran – langsamer geht’s leider nicht.

Sollte ‘mal jemand auf exlusives Duschen besonderen Wert legen, so gehe er in der Gosport Marina längsseits des ausgedienten Feuerschiffes. Genieße er die Kabinen mit eigener Toilette, danach die Bar im Oberdeck auf ein frischgezapftes Ale. Und während im Bauch des Schiffes die salzige Wäsche ebenfalls eine Erfrischung bekommt – nicht an das Hafengeld denken! Lieber daran, was die geschichtsträchtige Stadt Portsmouth alles zu bieten hat: Schiffs- und Marinemuseen par excellence, imposante Festungsanlagen, Fähren so groß wie Hochhäuser, schöne Strände und eine Pier, bei der The Who Filmszenen für „Tommy“ und „Quadrophenia“ gedreht hat.

Am Strand finden Christian, Anne und ich jede Menge Socken. Komisch: Sind es hier die Socken, so waren es auf Helgoland Regenschirme, in Oudeschild Unterhosen und in Scheveningen Schuhbänder, mit denen man einen Tante-Emma-Laden hätte aufmachen können. Wir lassen die Socken liegen und sammeln stattdessen Hühnergötter und Seetang, um alberne Fotos von uns zu machen ...

Nach soviel Kultur wird es am nächsten Tag dringend Zeit für die Rückkehr zur Natur, und wenn es auch nur von Portsmouth bis Yarmouth reicht. Dort quetscht man uns freundlich neben die Hafeneinfahrt und ansonsten nicht weiter aus. Stattdessen bringen wir unser Geld in mindestens zwei Kneipen hintereinander und schütteln ungläubig die Köpfe: Haben die Griechen doch tatsächlich die hochfavorisierten Tschechen im Halbfinale nach Hause geschickt. Ja, auch Seeleute können Ahnung vom Fußball haben! (Wem das noch nicht genügt: Fast die ganze Maltzahn-Crew sieht sich später auf Alderney auch noch das Endspiel an.)

Die Fahrt aus dem Solent wird der Hit (englisch: Schlag). Zunächst auf glattem Strom gegenan, verändert sich die Szenerie bei Tidenwechsel in Minuten: Kurze, steile Brecher überfallen uns, als die Needles achteraus sind. Die Situation ist knifflig: An Steuerbord die Untiefen der Shingles, an Backbord die vor den Needles, auf die der Wind drückt, und vor uns eine Passage von einer Kabellänge Breite. Immer wieder schlagen dazu Wellen gegen das Schiff. Der Klüverbaum taucht einige Male gefährlich tief in die grüne See.

Die nächste Stunde wird zum Geduldspiel für die Mannschaft und zum Kraftakt für den Rudergänger: Bloß nicht von den Wellen dwars drücken lassen!

Als die Passage hinter uns liegt, heißt es: All hands an Groß und Fock. Das gereffte Groß steht nach Minuten, aber die Fock läßt sich bei diesen Wellen und sechs Windstärken selbst gerefft nur schwer bändigen; das Fall ist einfach nicht vernünftig durchzusetzen, wenn man immer wieder wie in einem Kettenkarussell von einer Seite des Großsegels zur anderen fliegt. Zur Abwechselung geht es danach an den Expander: Die Schotführung war uns schon immer ein Dorn im Auge, aber heute treibt sie uns bis an den Wahnsinn! – Trotz dritter Hand will das verdammte Ding einfach nicht richtig dicht kommen.

Nun ja, nach der halben Stunde Ziehen und Zerren müssen wir sowieso abfallen, um das Schiff gut in Fahrt zu halten.

Hätte man nicht Klüver und Besan auch setzen müssen – bei nur sechs Bft.!? – So werden sich jetzt Einige fragen. Ich halte dagegen: Hätte man können, wenn man gekonnt hätte. Aber bei der immer noch äußerst unangenehmen See sind wir froh, mit drei fitten und vier nicht so fitten Leuten die Segel überhaupt gesetzt zu bekommen. Nach dem Einbinden eines Reffs in den Besan (den wir dann doch nicht setzen) wird uns außerdem klar, daß der Wind uns nicht den Gefallen tun wird, nördlicher zu gehen. Auch das Ausreffen der Fock läßt die Kompaßnadel weiterhin auf der Gradzahl 185 beharren. Is’ nix mit Kanalinseln morgen früh!

Eine regnerische Nacht senkt sich über die Maltzahn und ihre tapfere Mannschaft. Anderen geht es schlechter als uns: Wir empfangen mehrere MAYDAY-Rufe und PAN-PAN-Meldungen, die uns verdeutlichen, daß mit diesen Bedingungen nicht gerade zu spaßen ist. Aber es geht voran. Die französische Halbinsel Cotentin liegt voraus, der Hafen von Cherbourgh ist auch nachts gut anzulaufen. Als wir im Morgengrauen, an einem Schwimmsteg vertäut, in die Kojen sinken, ahnen wir nicht, wie anstrengend der Tag erst werden wird!

 

Vielleicht schlafen wir gerade vier Stunden, als man uns weckt und vehement darauf besteht, daß wir in den Innenhafen verholen müssen; erst das Zauberwort „umsonst“ läßt uns in gemäßigten Trab verfallen. Begreifen tun wir noch nicht: Warum dieses Theater? Und vor allem die Umstände? Wo wir morgen doch sowieso wieder auf See wollen. Wir liegen hier doch gut! – Denkste! Im Innenhafen liegen wir nicht nur noch besser, sondern werden auch noch hofiert. Wie die Könige! Man reicht uns zur Begrüßung zwei Flaschen Cidre und eine Kiste jener Schalentiere, die bei so manchem von uns nach recht kurzer Erholungsphase vom bloßen Hinsehen wieder unangenehme Gefühle in der Magengegend auslösen. Dazu wird unser Skipper (auch die Crew, naturelment!) zum Empfang beim Bürgermeister höchstpersönlich geladen. Und danach kommt man dann im Hafen zusammenzu einem kurzen Buffet. Und Abends sollen wir uns natürlich auch eingeladen fühlen; gleicher Ort wie am Nachmittag, la grande fête ...

Der Empfang im Rathaus: Während salbungsvolle Worte auf diverse Herrschaften herabfallen, plündert die Zuhörerschaft innerhalb kürzester Zeit dargebotene Kekse und tut interessiert. Man zählt die kaputten Glühbirnen, als plötzlich der Vorsitzende der nationalen Gaffelvereinigung auf einen zutritt und einen Schwall französischer Vokabeln über dargebotener rechter Hand reicht. In seiner linken zittert ein Glas Wein (nicht das erste, vermute ich), welches er hilfesuchend an ein anderes Crewmitglied weiterreicht, denn nun soll geehrt werden. Und wie ehrt man? – Mit Anstecknadel natürlich. Wenn es nur so einfach wäre. Der Vorsitzende kramt in den Hosentaschen, fördert die Nadel zutage und kapituliert dann vor dem Öffnungsmechanismus. Man nimmt ihm diese Arbeit ab und wird im nächsten Augenblick in die Brust gestochen; muß die fehlende Feinmotorik sein, die ihn nach vorne schnellen ließ. Vor Schreck läßt er die rückwärtige Partie der Auszeichnung fallen, welche dann durch das Schütteln der Hosenbeine wieder zutage gefördert wird. Das Lachen in der Traube der Neugierigen um einen herum wirkt langsam ansteckend. Irgendwie findet die Anstecknadel ihren Weg an die dafür vorgesehene Stelle. C`est bon!

Wir sind wieder auf See. Gut, daß ich gestern mich als stellvertretender Skipper geopfert habe; nicht so sehr wegen des Stichs in die Brust als vielmehr als Ziel unzähliger Becher voll Wein und Calvados, die dem Reserve-„Capitain“ angereicht wurden, leidet ich nun. Die anderen schwärmen von gestern: Eine fantastische Fête in wunderbarer Athmosphäre. Tolle Gastfreundschaft und keine echten Verständigungsprobleme. Viel Aufmerksamkeit der französischen Presse für les Allemagnes mit ihrer auch am Wochenende fleißigen Mannschaft; man arbeitete publikumswirksam in beiden Masten, und die Fotografin tat es uns begeistert nach. Und dann das leckere Essen mit Baguette, Fleisch und Austern ...

Hier wende ich mich ab und klammere mich an die Pinne – bis ich wieder soweit hergestellt bin, daß ich mich gefahrlos irgendwo auf Deck niedersinken lassen kann.

Ja, die Franzosen! Sangesfreudig sind sie zudem; und nicht unernst diskutieren wir mit ihnen das Thema: Warum singen die Deutschen nicht (mehr)? Hiermit möchte man offiziell anregen, diesem Mißstand alsbald abzuhelfen: Maltzähne, lernt Lieder!!!

Sechs Stunden nach unserem Ablegen vom Quai Alexandre III in Cherbourg machen wir in der Braye Bucht von Alderney an einer Muring fest – wieder einmal ohne eine einzige Segelstunde; es war einfach kein Wind! Dabei wollten wir noch nicht einmal besonders schnell sein. Der günstigste Tidenzeitpunkt diktiert uns langsame Fahrt.

Alderney beschert uns einen herrlichen Hafentag mit ausgedehnten Wanderungen und einer Fahrradtour inklusive ausgiebigem Picknick und Badefreuden. Einen ganz besonderen Spaß bietet der Anblick unseres neuen Dream-Teams auf den gemieteten Tandems: Oldie Jürgen und unser Benjamin Christian sehen einfach zum Schießen komisch aus! Wir alle verlieben uns in die Insel, und das Rudern zu siebent im Milchzahn ist von Lachsalven begleitet.

Der Milchzahn soll am nächsten Tag noch eine besondere Rolle spielen. Doch zunächst kommen wir auf der Fahrt nach Guernsey in einen für unsere dreiwöchige Reise einmaligen Genuß: endlich einmal Backstagsegeln! Christian steigt in den Milchzahn über und läßt sich schleppen, während der Rest der Crew die Topsegel zum Setzen vorbereitet. Dann kommt Kurt den Niedergang hoch, den gefüllten Rucksack auf dem Rücken. „Willst Du nach Hause, Kurt?“, flachsen wir. „Dann grüß ‘mal schön!“ – Er möchte Christian im Milchzahn ablösen und nimmt seine Kameraausrüstung mit. Wir fieren den ‘Zahn’ und setzen das Besantopsegel, sind eine Weile damit beschäftigt, als uns ein Pfiff von achtern erreicht. Dann noch einer, lautes Rufen. Kurt möchte wieder an Bord! Wir holen an der Leine und ... den Augbolzen vom Bug unseres Beibootes an Bord – der Milchzahn schwimmt schon zwei Kabellängen achteraus! Unser Smut ganz alleine auf hoher See – ohne Proviant, ohne Riemen. Sichtlich verzweifelt schaut er aus, als wir ihn nach einer Weile wieder an Bord nehmen. „Ich habe immer auf den Ruck gewartet, der beim Steifkommen der Leine kommt; aber da kam kein Ruck mehr.“ Als wir heute abend in St.Peter Port an Land rudern, ist Kurt lieber auf der Maltzahn geblieben ...

 

St.Peter Port ist nicht gerade ein geeigneter Hafen für unser Schiff mit seinen 2,6 Metern Tiefgang. Wir stecken zwar kurz die Nase dort hinein, verholen dann aber doch in die nebenan gelegene Havelet Bay. Viel Platz zum Ankern ist dort nicht, und der Grund ist unrein. Aber auch die Pippilotta und ein paar andere Schiffe finden dort kurzfristig Unterschlupf. Der Wetterbericht sagt voraus, daß der Nordost morgen auf bis zu 8 Bft. zunehmen soll, doch wir glauben uns im Windschatten des mächtigen Castle Cornet geschützt. In der Nacht beginnt die Maltzahn zu rollen ...

Am nächsten Morgen regnet es „Cats and dogs“, und nur wenig begeistert macht sich eine Einkaufs-Crew auf den Wegzum Ufer. Inzwischen nimmt der Wind wie versprochen zu – und dreht dabei etwas recht. Aus dem Rollen wird allmählich ein Stampfen – es wird ungemütlich. Hoffentlich kommt der Milchzahn bald zurück! Die verbleibene Crew bereitet das Ankeraufmanöver vor, die Maschine läuft. An Backbord liegt ein kleiner Katamaran, dessen Crew ängstlich hinüberschaut und Fotos von der Maltzahn schießt. Sie befürchten offenbar, daß wir auf sie hinaufdriften – und diese Befürchtung ist nicht unbegründet! Da kommt der Milchzahn – jetzt aber schnell hier weg!

Mit großem Einsatz hieven wir den Anker und arbeiten uns aus der Bucht. Der Wind hat auf mehr als die angesagten acht Windstärken zugenommen, die Sicht wird schlechter. Wir bekommen das Fahrwasser aus der Bucht gut zu fassen, aber nach Osten hin ist nichts mehr zu erkennen. Die Gischt peitscht uns in die Gesichter.

Die nächste Stunde wird zu einem spannenden Kampf gegen die Elemente, zu denen neben dem Sturm auch der starke Ebbstrom zählt. Meter für Meter kriecht die Maltzahn an den Untiefen vor der Festung von Cornet vorbei. Dann liegt die Hafeneinfahrt von St.Peter querab. Was wir jetzt vorhaben, ist der schwierigste Teil der Übung: Vor dem Wind bei quersetzendem Strom die Hafeneinfahrt treffen, das Schiff rechtzeitig vor den im Hafen ankernden Yachten stoppen, wenden und dann mit etwas Glück einen Platz an der Außenmole ergattern!

Als wir schließlich neben dem Versorgungsschiff für die Nachbarinsel Sark festmachen, ist das Gröbste überstanden; jetzt macht es uns auch nichts mehr aus, in Sturm und Dauerregen die Festmacher stündlich zu kontrollieren. Wir sitzen im gemütlichen Vorschiff und spielen Mensch-Ärgere-Dich-Nicht.

Am nächsten Morgen steht uns die Müdigkeit im Gesicht geschrieben – doch die Zeit läuft uns allmählich davon: Übermorgen muß unser Skipper Ole das Schiff verlassen, morgen sollten wir also in Brest sein. Bis dorthin sind es noch gute 150 Seemeilen. Wir legen ab, ohne von St.Peter viel mehr als den Hafen gesehen zu haben ...

 

Die See hat uns wieder, und natürlich geht es wieder gegenan. Der Wetterbericht verspricht keine Besserung, sondern NW 5-6, abnehmend 3-4. Das Motorsegeln ist uns inzwischen zur Gewohnheit geworden. Routiniert gehen wir unsere Wachen, und der Tag beschert uns sehr wechselhaftes Wetter. Gegen Nachmittag nimt der Wind auf die prognostizierten 5-6 Windstärken zu, und morgen soll der Nordwest sogar noch etwas aufbrisen. Wir sehen zu, daß wir bald um die Nordwestecke Frankreichs herum kommen.

Anne und ich haben Wache. Wir sind alleine an Deck und staunen fasziniert in das satte Grün der heranrollenden Seen und die gleißende Sonne auf den weißen Schaumkronen. Einige Brecher finden ihren Weg durch Ankerklüsen und Speigatten, doch das Deck bleibt weitestgehend trocken. Anne lehnt neben der Pinne am Schanzkleid und träumt in die Abendsonne hinein. Eine besonders steile Welle bricht sich plötzlich direkt neben ihr und schießt in einer Fontäne empor. Ich wende mich geistesgegenwärtig ab und sehe die Wasserkaskade sich neben mir in das offene Schiebeluk unter der Pinne ergießen, als ich hinter mir ein Geräusch vernehme, das sich verdammt ungewöhnlich anhört. Aber mir ist trotzdem klar: Es ist Annes Automatikschwimmweste! Ich drehe mich um und Anne grinst mich an – patschnaß. Mit einem „Hey, sehe ich nicht aus wie Dolly Buster?“ geht sie unter Deck und wechselt ihre Klamotten.

Während in der Nacht der Wind etwas abnimmt und die Wachen sich an wunderschönem Sternenhimmel mit guter Sicht auf den Mars erfreuen, habe ich in meiner Koje Halluzinationen: Hat da jemand das Radio angestellt – mitten in der Nacht? Und wieso immer dasselbe Stück? Jimi Hendrix’ Gitarre ist deutlich zu hören. Nach zwei Wochen auf See gibt es ja einige Geräusche, die man hört und dann allmählich bestimmten Teilen des Schiffes zuordnen kann. Aber die wie Kinderwimmern klingende Gaffelklau ist es nicht, die ich höre; auch sonst keine mir logisch erscheinende Ursache läßt sich finden. Es muß also doch das Radio sein – oder vielleicht Kurts Walkman... Aber Kurt hat doch Wache! – Ich stehe auf und schleiche vom Vorschiff in den Salon und wieder zurück – nichts! Kaum bin ich wieder in der Koje, fängt Jimi wieder an, zu spielen, wieder dasselbe Stück. Ich brauche lange, um in den Schlaf zu finden ...

Aus der wunderschönen Morgendämmerung laufen wir in die Passage Du Fromveur ein. Diese Durchfahrt führt unser Reise an ihren westlichsten Punkt, die Untiefentonne Pierre Vertes. Wir stoßen darauf und auf die runde Zahl 1000 Seemeilen mit Limonadenbrause an. Die Ile d´Ouessant liegt bald achteraus und fünf Stunden später sind wir am Ziel.

 

Die Party kann beginnen!