Herbsttour mit der Präsident Freiherr von Maltzahn (2002)

von Jens ‘Rudi’ Franke

 

Es ist Feiertag. Der Tag der Deutschen Einheit. Wie in jedem Jahr von vielen Seglern genutzt, nicht der Einheit wegen, sondern um sich auf’s Wasser zu begeben. Für mich ist es der erste, den ich auf der Präsident Freiherr von Maltzahn verbringe – auf „Großer Fahrt“ nach Helgoland.

Alles fängt eher profan an: Der dritte Oktobertag, der geschichtlich in unserem Land untergeordnete Bedeutung hat; die Große Fahrt, die für einen Finkenwerder Kutter von 1928 nur eine der kleineren sein wird; ein recht gewöhnlich anmutender Donnerstag, der uns zur Morgenstunde im Museumshafen zusammenfinden läßt. Und das sind (in bedeutungsloser Reihenfolge) genannte: Jürgen, der älteste neben Merten, dem jüngsten; Malte und Swup, die Unentwegten mit ihrem noch-blinden Passagier; Jörg, unser Mann für’s Grobe mit dem Gespür für’s Feine; Gisela, die Frau für Organisation und gute Laune; Rolf, der Maschinist und Tüftler, Skipper Matthias mit seiner Freundin Stella und deren Freundin Rosani.

Die Einteilung der Wachen und die Sicherheitseinweisung wird von uns allen derart genau genommen, daß es schon auf späten Vormittag zugeht, als wir die Leinen loswerfen und wenig später die Backbordwache die Schiffsführung übernimmt.

Was jetzt fehlt, ist der Wind. Kein Hauch ist zu spüren, das Segelsetzen würde uns nur unnötig ins Schwitzen bringen, denn für diese Jahrezeit wird es doch ganz nett warm. Erste Barfüßler werden an Deck gesichtet. Tja, aber was macht man ohne Arbeit an den Segeln? – Richtig: man legt sich auf’s Ohr oder sucht sich andere Arbeit. Schon bald gibt es um die ausgesuchten Lungerplätze einige kleinere Baustellen, die sich vornehmlich dem Abschluß des diesjährigen Kalfat-Projektes widmen. Die Glückstädter Werft hatte ja nicht schlecht gearbeitet, aber recht langsam. Wir waren ihnen im August sozusagen unter der Sikaflex-Tube davongelaufen, weil es nicht mehr auszuhalten war ohne ein richtiges Schiff.

Jetzt sitzen die Fleißigen an Oberlichter-Prismen und Ofendurchlässen, um vermeintlich letzte Undichtigkeiten zu beseitigen, während die Schlauen – entsprechend ihren Kojen darunter – Tips parat haben.

Mehrere Pütz Wasser prüfen die Versuche mit der Sika-Spritzpistole auf Erfolg, und stolz werden die lange verwaisten Vorschiffkojen belegt. Wobei stutzig macht, daß sich die Erfahreneren dabei höflich zurückhalten. Trauen sie dem Frieden noch nicht? Naja, zunächst herrscht einhellig die Meinung, daß „bei dem Wetter“ nur von unten Wasser hereinkäme. Es sieht tatsächlich nicht so aus, als sollte es heute noch Wind geben. Stattdessen wird es zunehmend diesig, und wer die Unterelbe bisher nicht kannte, wird sie heute nicht mehr kennen lernen.

Bis zum ersten Wachwechsel bleibt es wenigstens sonnig, und jeder darf mal ran ans Steuer; selbst Merten zieht für einige Zeit an der Talje, mit der die riesige Pinne nach Steuerbord geholt wird. Nur mit dem Gegensteuern klappt es noch nicht so richtig – is’ aber auch egal, wenn man noch nicht mal über die Schanz gucken kann, oder? Und spätestens ab Brunsbüttel ist da sowieso nicht mehr viel zu sehen; einerseits, weil sich die Elbe dort an Steuerbord bis in die Unendlichkeit öffnet. Andererseits, weil der Dunst nur noch ahnen läßt, wohin uns die Reise führt. Jetzt sind die Scharfsichtigen gefragt, um uns sicher am Fahrwasserrand zu halten.

Schon längst ist klar, daß wir heute Nacht nicht auf die Nordsee gehen werden – leider! Doppelt leider, aber dazu später. Zunächst sind wir jedoch traurig, daß diese Sichtverhältnisse eine Weiterfahrt bei eigentlich sehr handigem Wetter nicht zulassen; und so steuern wir noch vor Niedrigwasser den alten Fischereihafen von Cuxhaven an. Weil mich Merten zu einer Partie DAMPFROSS in die Vorpiek verschleppt hat, bekomme ich das Anlegemanöver nicht mit; es scheint aber ganz in Ordnung gewesen zu sein, denn wir hören nur wohltönende Geräusche.

Mein Sohn gewinnt das Spiel und bei der Mannschaft der Hunger die Oberhand über die Lust, selbst Backschaft zu bereiten. Wir kraxeln die Leiter an der Spundwand hoch und stapfen durch den inzwischen eingesetzten Sprühregen zum Fischerei-Restaurant ganz in der Nähe. Man empfängt uns mit offenen Armen, das heißt – zunächst gar nicht; denn keine Bedienung ist weit und breit zu sehen, um zu verhindern, daß wir uns Tische und Stühle schnappen und uns eine lange Tafel schaffen. Als die Bedienung kommt, kapituliert sie vor dem Charme einer übermütigen Horde Seeleute und erfüllt auch noch alle anderen Wünsche zur vollsten Zufriedenheit. Nur Jürgen muß uns mit leerem Magen verlassen – sein Sohn holt ihn noch vor dem Essen ab.

Und nach dem Essen sollst Du ... an Bord gehen und in die Koje kriechen, wenn der nächste Tag früh zu beginnen und heftig zu werden verspricht. (Nicht nur aus Solidarität zu Mertens Minderjährigkeit gibt es zum Ausklang dieses Abends nicht viel mehr zu berichten als das kurze nächtliche Zusammensein an Deck, mit der letzten Zigarette.)

 

Der nächste Morgen empfängt uns kühl und beinahe sonnig. Wir haben den Wetterbericht gestern abend gelesen und heute morgen lesen wir denselben noch einmal; doch davon wird er auch nicht besser! Nordwest 5 bis 6, später 7 – Schauerböen sind für die Deutsche Bucht vorhergesagt. Ach, wären wir doch gestern abend ... – Nein, immer vorausschauen, heißt die Devise. Wir reffen Groß und Besan, bringen die Sicherheitsleinen an Deck aus und checken die Schwimmwesen noch einmal durch. Matthias’ Umsicht läßt nichts außer Acht.

Um Viertel nach elf geht es los, und die Maschine wird auch heute unsere beste Freundin sein ... Aber der Reihe nach: Im Tonnenstrich bekommen wir den Wind genau auf den Sack, und die Segel bleiben zunächst unten. Es ist tatsächlich merklich kühler und gar unleugbar windiger als gestern, und die ersten Gesichter werden wahlweise rot oder grün. – Wind gegen Welle. Gegenan motoren, naja. Is’ ja nich’ so weit bis zum Abbiegen hinter’m Vogelsand, sagt man sich im Stillen. Ist es aber doch! – Sagt Dir dein Magen, der Sekundenzeiger und die Nummer auf der Tonne, an der die Maltzahn gerade vorbeischleicht.

Zwei Stunden nach dem Auslaufen: Endlich – Besan und Großsegel werden geheißt, danach die Fock. Aber was ist das? Die Besanschot habe ich doch gerade dicht geholt. Jetzt scheint sie wieder gefiert zu sein. Ich hole sie wieder an. Plötzlich ein Knacken über mir – die Reffkausch reißt aus! Schnell fiere ich den Besan auf, als es auch schon von vorn brüllt: „Hey! Was soll das!?“ – „Der Besen is’ im Arsch!“, brülle ich zurück; der Wind hat zugenommen, ohne Brüllen geht es schon nicht mehr. (Der Chronist entschuldigt sich für die Ausdrucksweise, möchte jedoch darauf hinweisen, daß Verständlichkeit beim Segeln manchmal vor Formulierkunst oder gar einer korrekten Meldung beim „Wachhabenden Offizier“ geht.)

Wir bergen das Segel und sind gerade dabei, das zweite Reff einzubinden, als auch im Groß die Reffkausch ausreißt. Noch schlimmer: Mit einem lauten „Raaatsch“ geht der Riß gleich weiter, das halbe Achterliek hoch! Hier bedarf es keines Brüllens oder deftiger Ausdrucksweise, jeder von uns sieht sofort: Das war’s wohl mit dem Groß für heute. Aber es soll noch schlimmer kommen (und möge der eine oder andere diese Ankündigung bereits als stille Aufforderung auffassen, den nächsten Versuchen Glück zu wünschen, ein Segel zu setzen und länger als ein paar Minuten in diesem Zustand zu fahren, so sei er versichert: Mit Glück oder etwa Können hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun. Die Segel der Maltzahn sind einfach alt, sie sind durch, sie sind schon gar nicht mehr wahr!).

Wir sind inzwischen am Ende des Tonnenweges angekommen, die Wellenhöhe hat auf gut zwei Meter zugenommen, der Wind ist noch nicht ganz bei den angesagten 7 Bft angelangt. Die Maschine hat Rolf wieder gestartet, Fock sowie Großsegelrest sind geborgen und wir halten Kriegsrat; weiter mit gerefftem Besan und Vorsegeln? Oder zurück?

Nein – nicht zurück! Wir haben da ja noch ein paar schöne Klüversegel zum Setzen, der Besan steht inzwischen auch wieder gut, und die Mannschaft ist wohlauf – wenn man von den ersten Anzeichen der Seekrankheit bei dem einen oder der anderen absieht. Die einsatzfähigsten unter uns robben auf das stampfende Vordeck und machen Fock und mittelgroßen Klüver klar. Aus irgend einem Grund haben wir uns entschieden, den Klüver als erstes zu setzen – und retten damit (vielleicht) die Fock, die ebenso alt und strapaziert ist wie alle anderen Segel. Es kommt, was kommen muß: Als der Klüver, gerade vor der am Bug schäumenden Nordsee gerettet, empor steigt – reißt er an drei Stellen gleichzeitig ein! Nicht an einer, womöglich am Anker hängenbleibend oder am Spill, nein; tatsächlich an drei Stellen dicht nebeneinander und ohne allzu häßliche Geräusche (kein Wunder bei dem mürben Tuch). Nach ein paar Sekunden des ungläubigen Staunens bei Swup, Rolf und mir sowie gegenseitigem Vorzählens der Löcher-Anzahl fällt das Segel an Deck und für weitere Vorhaben aus – jedenfalls in den nächsten Stunden.

Wir nähern uns den Ankerliegern auf der Außenelbe-Reede, und die Wellen werden etwas gleichmäßiger. Noch immer taucht der Bug ab und zu in die grüne See und im Vorschiff werden die ersten nassen Kojen gemeldet. Aber noch immer ist auch die Zuversicht ungebrochen, daß wir Helgoland erreichen. Und wenn schon nicht unter Segeln, dann eben unter Motor. Der Besan bleibt als Stützsegel stehen. Die Steuerbordwache übernimmt um 16 Uhr, und alle anderen stellen sich auf magenunfreundliche Stunden ein. Wem es noch hilft, der schnappt sich eine Tüte Gummibären und treibt seine Scherze damit.

Im Ernst: Eigentlich liegen nur Merten (schon seit Cuxhaven), Malte (profilaktisch und nur wenig später) sowie Jörg (nach einem Schlag des Großbaums in die Magengrube – und wie sich Tage später herausstellt, mit drei angebrochenen Rippen) in ihren oder irgendjemandes Kojen. Der Rest sitzt an Deck, genießt die Gummibären und/oder das Schauspiel der schnell ziehenden Wolken am Horizont. Rolf verschwindet alle Viertelstunde unter Deck, um den vorschriftsmäßigen Lauf der Maschine zu prüfen. Gisela kauert versonnen am Beiboot, Rosani und Stella albern im Niedergang, Swup tauscht mit mir Fachgesimpel aus und Matthias hat alles im Blick – und außerdem verdammt gute Laune.

Die kann man allmählich auch bekommen, denn Helgoland ist gut in Sicht, der Wind hat nicht weiter zugenommen und Schauer haben wir bis auf einen ganz kleinen kurz nach Cuxhaven auch noch keinen abbekommen. Spannend wird es trotzdem, denn es beginnt zu dämmern.

Als wir in die Nacht hineinsegeln, sind die Tonnen vor Hog Stean gut zu erkennen. Wir halten Kurs auf die erste Steuerbordtonne und schwenken dann ins Fahrwasser ein. Geschafft! Das Anlegemanöver ist um halb Neun abgeschlossen, die Mannschaft wohlauf und Helgoland unser!

Der Abend wird für die gesamte Mannschaft nicht mehr lang, denn der Tag war anstrengend; dieses ewige Auf und Ab in den Nordseewellen hat nicht nur dem Schiff das Ächzen und Stöhnen beigebracht. Jetzt aber liegen wir sicher im Südhafen, dicht bei den Duschen und dicht leider auch bei einem Fischkutter, dessen Dieselaggregat den einen oder anderen von uns nicht sofort einschlafen läßt…

 

Der nächste Tag ist nur für die Strecke zum Dieselbunkern ein Seetag, für uns alle jedoch ein Wassertag. Gerade nämlich als die Maltzahn von der Tankstelle auf dem Rückweg zum Südhafen ist, kommt der dickste Schauer nieder, und nicht nur der gerade wieder zu uns gestoßene Jürgen ist am feixen - auch Merten und ich sind froh, daß wir zum Leinenübernehmen an Land zurückgeblieben sind. Danach aber heißt’s für alle: Freiwache und Landgang. Trotzdem ziehen es Malte und Swup vor, den Klüver zu flicken. Unsere Hochachtung ist ihnen auf jeden Fall sicher!

Abends sind wir damit beschäftigt, das Vorschiff trocken zu bekommen. Leider haben wir bei unseren Bemühungen, die Kahlfatnähte alle noch dicht zu bekommen, das vordere Ofenrohr ausgespart; und das rächt sich jetzt. Der verregnete Tag äußert sich unter Deck mit einem Dauerwasserfall vom Decksbalken über den Steuerbordkojen im Vorschiff. Bei dieser Feuchtigkeit hat es überhaupt keinen Zweck, mit Sikaflex auch nur zu versuchen, dagegen anzugehen. Hier helfen nur passive Maßnahmen: Eimer und Lappen unter Tropfstellen positionieren, Kojen räumen, Tropfen zählen… Die Nacht wird für die meisten eine sehr ruhige - nur ich liege wach und lasse mich auf die chinesische Art foltern: Tropfen für Tropfen fällt mir auf die Nerven. Als es dann auch noch zu wehen anfängt und das Schiff in den Leinen arbeitet, ist die Nacht gelaufen. Aber wenigstens habe ich jetzt einen Grund, auch andere an meinem Wachsein teilhaben zu lassen. Mein erster Leinenkontrollgang bleibt noch unbemerkt; als jedoch die Maltzahn gegen die Bohle an der Pier zu donnern beginnt, schälen sich nach und nach Swup, Jörg, Rolf und Matthias aus ihren Kojen und helfen, Fender auszubringen. Der Wind wird zum Sturm, und das Schiff wird immer wieder gegen die Kante des Rundholzes gedrückt; die Planken vor dem Eingedrücktwerden zu schützen, beschäftigt uns im Viertelstundenrythmus bis in die späten Morgenstunden. Dann läßt der Sturm aus Nordost allmählich nach.

An ein Auslaufen ist heute Morgen allerdings noch nicht zu denken; es weht immer noch mit 7 Bft., und das mit den Segeln, die wir zur Verfügung haben? - Nein, danke!

Es wird Mittag, und damit fällt für mich die Entscheidung: Ich kann nicht mit zurück segeln, weil ich Merten nach Hause bringen muß. Morgen ist doch wieder Schule! Als wir zusammen mit Jörg, der ebenfalls auf dem Festland erwartet wird, von Bord gehen, fällt auch auf der Maltzahn die Entscheidung, aufzubrechen; es hat auf 6 Bft. abgeflaut, mit der Tendenz zum weiteren Nachlassen des Windes. Von Bord des MS „Helgoland“ sehen wir die Maltzahn auslaufen und draußen Segel setzen. Wie gerne wäre ich jetzt dabei, denn gesegelt habe ich an diesem Wochenende wenig…

P.S.: Als ich - auf dem Achterdeck der „Helgoland“ stehend – die Maltzahn anfunke, ist dort alles wohlauf, und mein übermittelter Spruch, den ich unter Beistehenden aufschnappe („Guck mal, da ist ein Großsegler“), wird auf der am Horizont unter stark gerefften Maltzahn mit einem Lachen aufgenommen.

P.P.S.: Die Maltzahn segelt bis kurz vor Cuxhaven in eine kalte Nacht hinein. Der nächste Tag beschert ihr wieder einmal keinen Wind, und unter Motor erreicht sie am nächsten Nachmittag Oevelgönne.